Resümee der Veranstaltung vom 07. Juni 2017 „Arbeitsmarkt Pflege: Willkommener Jobmotor oder ungeeignetes Auffangbecken?“

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Dr.in Andrea E. Schmidt, MSc Gesundheit Österreich GmbH, Abteilung Gesundheitsökonomie und –systemanalyse

Das Zusammentreffen von anhaltender Arbeitslosigkeit, insbesondere bei älteren Personen, und dem Arbeitskräftemangel im Pflege- und Betreuungsbereich führt immer wieder zur Idee, die bestehende Lücke durch branchenfremde Arbeitssuchende zu schließen. Zuletzt wurde von Regierungsseite etwa der Fahrplan 20.000 präsentiert, im Rahmen dessen laut Sozialminister Stöger „jährlich 20.000 Arbeitsplätze in Gemeinden, gemeinnützigen Trägervereinen und Unternehmen“ für Langzeitarbeitslose im Alter von 50 Jahren und älter geschaffen werden sollen. Der Sektor der Langzeitbetreuung und –pflege stellt dabei ein mögliches Erwerbsfeld für ältere langzeitarbeitslose Personen dar. In diesem Beitrag werden die Meinungen und Perspektiven zu diesem Thema dargestellt, die im Rahmen einer Veranstaltung der Arbeitsgruppe Pflegeökonomie der Austrian Health Economics Association (ATHEA,  Begrüßungs-Präsentation der Veranstaltung) am Mittwoch, 07. Juni 2017 diskutiert wurden.

Wo liegen Potenzial und Risiken des ‚Jobmotors Pflege‘ aus Sicht der einzelnen Akteurinnen und Akteure, die in der Langzeitpflege und –betreuung zusammentreffen? Zu dieser Frage waren Interessierte aus Wissenschaft und Praxis in die Räumlichkeiten des Instituts für Höhere Studien eingeladen worden. Dabei wurden im Rahmen einer Podiumsdiskussion und kurzer Impulsvorträge die unterschiedlichen Perspektiven einander gegenüber gegenstellt. Neben der Sichtweise des Bundesministeriums für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz (BMASK) fand auch jene der pflegebedürftigen Personen und deren An- und Zugehörigen Beachtung. Letztere wurden von der Präsidentin der Interessensgemeinschaft pflegender Angehöriger Birgit Meinhard-Schiebel vertreten, während das Bundesministerium durch den Gruppenleiter und Stellvertreter des Leiters der Arbeitsmarktsektion Dr. Christian Operschall repräsentiert wurde. Ergänzt wurde die Diskussion durch die Beiträge von Mag. Kurt Schalek von der Caritas Wien, sowie MMag.a Heidemarie Staflinger von der Arbeiterkammer Oberösterreich. Die Initiative ‚Beschäftigungsaktion 20.000‘ des BMASK zielt auf eine Art von Betreuung in der Nachbarschaft ab, die gewissermaßen eine leistbare Alternative zur 24-Stunden-Betreuung bieten soll. Diskutabel bleibt dabei, ob Ähnlichkeiten mit dem niederländischen Vorzeigemodell der Buurtzorg gegeben sind oder nicht. Konkret werden ab 01. Juli 2017 mehrere Tausend ältere Langzeitarbeitslose in zehn Modellregionen in Österreich auf eine Tätigkeit im Bereich der Langzeitbetreuung vorbereitet.


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Dr. Christian Operschall (links), Mag. Kurt Schalek (rechts)

Frustrationen vermeiden: Ruf nach Beachtung psychosozialer Kompetenzen und des spezifischen Tätigkeitsprofils

Kritisch wurde von Anbieterseite darauf hingewiesen, dass bei der Umsetzung einer solchen Initiative eine differenzierte Behandlung der großen Bandbreite an Berufsprofilen in der Betreuung und Pflege notwendig ist. Allein das Alter sage schließlich noch nichts über die tatsächliche Kompetenz einer Betreuungs- oder Pflegekraft aus. Vielmehr gehe es neben fachlichem Wissen auch stark darum, sich der psychosozialen Bedürfnisse pflegebedürftiger Personen anzunehmen, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, Beziehung zu schaffen. Derzeit kämen diese Aspekte vielfach zu kurz oder würden als ‚unproduktive Zeit‘ gelten, so einer der Kritikpunkte. Auch müssten Langzeitarbeitslose, die als Quereinsteiger in die Betreuungsarbeit wechseln, die Fähigkeit mitbringen, in belastenden und komplexen Situationen richtig reagieren zu können. Es wird daher dazu geraten, von pauschalisierten Vorstellungen abzugehen und stattdessen die On-the-job-Begleitung von Langzeitarbeitslosen, die in der Langzeitbetreuung tätig werden, vor allem zu Beginn besonders zu beachten, um zusätzliche Frustrationen für ältere Personen auf Jobsuche zu vermeiden. Auch Migrantinnen und Migranten würden besondere Begleitung beim beruflichen Einstieg benötigen, so der Vertreter der Caritas Wien Mag. Schalek.

Psychische und körperliche Belastungen in der Betreuungs- und Pflegearbeit sind nicht zu unterschätzen

Arbeitsbedingungen in der Langzeitpflege und –betreuung sind vielfach mit einem hohen Maß an Sinnstiftung, aber auch psychischer und körperlicher Belastung verbunden. Dies wurde sowohl von Seiten der Arbeiterkammer Oberösterreich als auch der Vertreterin pflegender Angehöriger angemerkt. Es sei daher keinesfalls gesagt, dass langzeitarbeitslose ältere Personen für ein derartiges Belastungsniveau problemlos gewappnet seien. Ein hohes Maß an Abstimmung aller Beteiligten, von Arbeitnehmer- und von Arbeitgeberseite, ist daher unbedingt nötig, so die Empfehlung der ExpertInnen. Auf der Anbieterseite ist etwa darauf zu achten, dass durch das Schaffen neuer Profile keine Konkurrenz mit bereits bestehenden Berufsgruppen entstehe, wie etwa zwischen den von der Initiative angedachten Community-Care-Profilen und der etablierten Heimhilfe.  Auch die Sicherstellung von angemessener Qualität in der Langzeitpflege und –betreuung älterer Personen nehme einen zunehmend hohen Stellenwert ein: „Etwas Anderes haben unsere alten Personen nicht verdient“, so die Vertreterin der Arbeiterkammer. Es sei daher frühzeitig abzuklären, ob die Person, die als Quereinsteigerin einen Betreuungsberuf ausüben möchte, auch über ausreichende Kompetenz und gesundheitliche Ressourcen verfügt und ob das Einkommen, das aus der Tätigkeit lukriert werden kann, tatsächlich zum Leben reiche.

Zu den Herausforderungen in der Betreuungsarbeit zählt außerdem, dass pflegebedürftige ältere Personen mitunter durchaus hohe Ansprüche an die Betreuungsperson mitbringen und vielfach damit überfordert sind, die zugesprochenen Kompetenzen der einzelnen Berufsprofile im Alltag zu durchschauen. „Wer darf was?“ lautet daher eine häufig unbeantwortete Frage, wenn ältere Personen und deren Angehörige und Zugehörige mit Pflegebedürftigkeit konfrontiert sind. Hinzu kommt, dass – auf Anbieterseite – langzeitarbeitslose ältere Personen bei einem Wiedereinstieg ebenfalls erst langsam wieder auf die Belastungen des beruflichen Alltags vorbereitet werden müssten, um ein Gefühl der Überforderung sowie ein erneutes Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt zu verhindern.


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MMag.a Heidemarie Staflinger (links), Birgit Meinhard-Schiebel (rechts)

Betreuung und Begleitung statt Pflege: Wünsche der pflegenden Angehörigen ins Zentrum stellen

Die Unterscheidung zwischen Betreuungs- und Pflegearbeit wurde mehrfach als eine bedeutsame Differenzierung hervorgehoben, insbesondere in den Wortmeldungen aus dem Publikum, das Vertreterinnen und Vertretern aus sozialwissenschaftlicher Forschung, aber insbesondere auch aus Pflegeheimen und Krankenhäusern sowie der Interessensvertretung von Patientinnen und Patienten umfasste. Eine Möglichkeit, das Konzept der Community Care, das vom BMASK propagiert wird, umzusetzen, wäre es, von Begleitung anstatt von Betreuung oder Pflege zu sprechen, so eine weitere Anregung. Soll es sich bei den neuen Tätigkeitsprofilen um ein Zusatzangebot handeln, das Angehörige entlasten soll, so bleibt jedoch die Frage offen, wie viel dieses Angebot kostet und welche Gruppen pflegebedürftiger Personen sich dieses letztendlich auch leisten können oder wollen. Gleichzeitig könnte ein zusätzlicher Betreuungs- oder Begleitungsdienst bestehende Lücken im Pflegesektor schließen helfen, wie etwa Betreuung in der Nacht. Ungelöst bleibe jedoch nach wie vor, dass vielfach das Problem in der mangelnden Stundenanzahl verfügbarer Angebote liege als in der Vielfalt des Angebots an sich. Schließlich würden sich viele ältere pflegebedürftige Personen eine intensivere Nutzung des bereits bestehenden Angebots anstatt neuer Formen von Angeboten wünschen, was jedoch derzeit an der mangelnden Verfügbarkeit scheitert.

Abschließend kann zusammengefasst werden, dass ein berufliches Engagement von älteren langzeitarbeitslosen Personen in der Langzeitbetreuung und –pflege nicht dadurch begründet werden kann, dass diese Personen anders nur schwer vermittelbar wären. Der Pflegesektor würde dadurch tatsächlich eher zum ‚Auffangbecken‘ als zum ‚Jobmotor‘, wie im Titel der Veranstaltung angedeutet. Da es sich um ein eher niederschwellig orientiertes Betreuungs- und Begleitungsangebot handeln soll, ist vor allem darauf zu achten, welche Formen der Entlastung sich Angehörige und Zugehörige sowie die pflegebedürftigen älteren Personen selbst wünschen.


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Fotos © Athea

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